Zum Jahreswechsel 2021/22 ging die von mir mitherausgegegebene Festschrift D. Ade et al (Hg.), Sachgeschichte(n). Festschrift für Barbara Scholkmann zum 80. Geburtstag. Beiträge zu einer interdisziplinär verstandenen Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit (Tübingen 2021) online. Mit enthalten ist mein Aufsatz "Historische Archäologie. Kernpunkte eines geschichtswissenschaftlichen Archäologiekonzepts und ihre Bedeutung im "archäologischen Prozess", in dem ich das in meiner Dissertation entwickelte Archäologiekonzept plakativ auf den Punkt bringe und - als Neuerung zu damals - dessen Bedeutung im Rahmen der alltäglichen "Rettungsarchäologie" diskutiere.
Die seit 2020 laufenden umfangreichen archäologischen Untersuchungen im Zusammenhang der Hochwasserschutzmaßnahmen in Bad Urach (in Zusammenarbeit mit IKU Institut für Kulturvermittlung und DAB Wolf, Tübingen-Bühl, haben durch baubegleitende Maßnahmen der Jahre 2021/22 (Einmündung Kirchstraße/Bismarckstraße, Gabriel-Biel-Platz plus Wasserleitungstrasse Richtung Schloss, Westende Chorstraße) wichtige Ergänzungen erfahren. Zusammenfassend lässt sich jetzt schon sagen, dass die heute in der Uracher Altstadt erlebbaren spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Baustrukturen mindestens im weiteren Umfeld von Schloss und Kirche durchweg auf älteren hoch- bzw. spätmittelalterlichen Strukturen basieren, die ganz anderen topografischen Konzeptionen folgten: Der Kern Urachs wurde im Spätmittelalter massiv umgestaltet - und wir haben nun die ersten Ansätze, die ältere Stadtopografie dieser bedeutenden Stadt aufzuklären. Es steht sehr zu hoffen, dass nach Abschluss der intensiven Bodeneingriffe im Altstadtbereich eine Auswertung der umfangreichen archäologischen Dokumentationen ins Auge gefasst werden kann.
Im Auftrag der Stadt Bad Waldsee fand vom 22. Februar bis zum 22. April 2021 eine Rettungsgrabung im Vorfeld des Anbaus eines Verwaltungsgebäudes an das barocke, ehemalige Franziskanerkloster statt. Vorausgegangen waren mehrtägige baubegleitende Untersuchungen in den Jahren 2019-21 im Zusammenhang der vorbereitenden Arbeiten. Gerade vor dem Hintergrund des aktuellen DFG-Projekts Auswirkungen mittelalterlicher bis frühneuzeitlicher Stadtentwicklung auf Gewässer am Beispiel von Bad Waldsee von besonderem Interesse ist die Interaktion zwischen Stadt und See. Die Aufarbeitung der Dokumentation wurde im Januar 2023 abgeschlossen.
Die Grabung Bad Waldsee, Hauptstr. 10-12 ist von besonderer Bedeutung für die Geschichte von Stadtbefestigung und -erweiterung, aber auch für die Beziehung Stadt-Stadtsee, welche sich auf dem nicht überall ausreichend stabilen Baugrund der Spitalbucht deutlich bemerkbar macht. Die Besiedlung auf dem Grabungsareal lässt sich lediglich bis in das 12./13. Jahrhundert n. Chr. zurückverfolgen, ältere Besiedlungsphasen lassen sich nicht nachweisen. Tatsächlich reichte der heutige Stadtsee in früheren holozänen Zeiten weit in die Grabungsfläche und nach Süden und Südwesten sogar über sie hinaus, wobei sich die Chronologie mit rein archäologischen Methoden nicht näher spezifizieren lässt.
Die vorstädtische Besiedlung weist zweiphasig Pfostenbauten in der Ausrichtung der Waldseer Hauptstraße auf, außerdem einen Komplex wohl von Materialentnahmegruben in der Seekreide, mit dem weitere Pfostengruben korrelieren könnten. Die erste Stadtmauer wird im späten 13. Jh. bzw. "um 1300" errichtet - möglicherweise etwas später als die Erwähnung eines Stadtgrabens im Jahr 1283. Tatsächlich war der Stadtmauer an dieser Stelle weder in Richtung See noch (auf den ersten gut drei Metern) in Richtung Wurzach ein echter Stadtgraben vorgelagert. Die nach NNW verlaufende seeseitige Mauer knickt am Grabungsrand Richtung N um, was weiterführende Überlegungen zum Mauerverlauf erlaubt. An der Knickstelle, an der sich die Maueroptik im Aufgehenden hin zu Großwackenmauerwerk verändert, könnte ein Stadtmauerturm bestanden haben. Die letzten gut 10 m des ummauerten Areals Richtung Wurzach blieben zunächst frei von Massivbebauung. Sie dürften als Gartenareal genutzt worden oder lediglich mit leichten Nebengebäuden bestanden gewesen sein.
Kurz nach 1403 wird die zuvor unbefestigte Wurzacher Vorstadt in den Mauerring miteingeschlossen. Interessanterweise ist diese Erweiterung im Grabungsareal auch eine etwa 9 m messende Erweiterung Richtung See. Dies mag dem Umstand geschuldet sein, dass hier schon während des 14. Jahrhunderts ufernahe Bebauung auf Höhe der Altstadt entstanden war. Diese Bebauung ist, ohne dass vor der Fundauswertung genauer spezifizieren zu können, wohl in handwerklichem Kontext zu sehen. Die Funde von verglasten Steinen, die auf Glasmacherhandwerk hinweisen, die ab dem 15. Jahrhundert in verlagertem Kontext auftreten, gehören sicher zu in einiger Entfernung betriebenen Glasöfen. Dass in der Wurzacher Vorstadt (vermutlich nur bis zu deren Befestigung nach 1403) tatsächlich Glas produziert wurde, dürfte sich in der bereits 1407 im Kontext seiner Ersterwähnung überlieferten Bezeichnung "Gluthafentor" für das Wurzacher Tor überliefert haben.
Wohl erst zwei Jahrzehnte nach dem Umschluss der Stadtmauern erfolgte im Zusammenhang mit dem Grundstückserwerb durch das Chorherrenstift Schussenried die bauliche Erschließung des Areals. Der als "Schussenrieder Fluchthof" bekannte Klosterhof ist als mehrteiliger Gebäudekomplex klar erkennbar, das hochwertige Fundmaterial - genannt sei die Ofenkeramik - passt gut dazu. Außerhalb der Stadtmauer, an diese gelehnt, wurde, sehr wahrscheinlich durch den Klosterhof, ein Ofen betrieben. Im SSO des Klosterhofs lässt sich ein Wegverlauf und weitere Bebauung feststellen, unter Berücksichtigung der Lage der in den 1460ern errichteten "Krettlinskirche" lässt sich die damalige Stadttopografie großräumiger diskutieren.
Um 1500 bzw. im frühen 16. Jh. kippt die ein Jahrhundert alte Stadterweiterungsmauer Richtung See, die angrenzenden Bauten werden unbewohnbar. Dies führt zu aufwendigen Stabilisierungsmaßnahmen und Anschüttungen auf der Seeseite und zur vollständigen Neuerrichtung der Bebauung auf der Stadtseite. Der Schussenrieder Fluchthof wird qualitätsvoll neu errichtet, wobei der Hauptbau sich auf das Fundament der 100 Jahre vorher bodennah abgebrochenen älteren Stadtmauer zurückzieht. Die Nebengebäude, die sich an die im Aufgehenden sicherlich veränderte Stadterweiterungsmauer stützen, gehen schon im 16. Jahrhundert wieder ab, es ist zu vermuten, dass sie durch "archäologisch unsichtbare" Nachfolger auf leichten Schwellfundamenten ersetzt wurden.
1650 erwirbt das neugegründete Franziskanerkloster den Schussenrieder Fluchthof und die Krettlinskirche und fügt sie zu einem bis zur Hauptstraße reichenden Vierflügelbau zusammen. Im NNW-Flügel des Klosters dürften sich auch baulich relevante Bestandteile des Schussenrieder Fluchthofs erhalten haben - die Flucht ist dieselbe. Mit der Gründung des Klosters wird das seewärtige Stadtareal vermutlich erneut zu Gartenland. Es lassen sich bis in die Moderne keine massiven Bauten in diesem Bereich mehr nachweisen. Letztlich ist für das 16./17. Jh. ein zweistufiger Rückzug der Bebauung weg vom See zu konstatieren, nachdem sie im 14./15. Jh. erst in diese Richtung ausgegriffen hatte.
Nach dem Übergang an Württemberg 1806 wird das Kloster aufgehoben. Die Gebäude werden zunächst als Fruchtschütte genutzt, ab 1855 residiert die Oberamtei im ehemaligen Kloster. Noch im 19. Jahrhundert wird im südlichen seewärtigen Bereich ein von der Oberamteistraße aus erschlossenes Gefängnis errichtet, das bis 1972 Bestand hatte. Danach nutzte man das Gelände östlich des Gebäudekomplexes, den sich nun Stadtverwaltung und Polizei teilten, als Parkplatz, die an der Bebauung der Wurzacher Vorstadt ausgerichtete neue Polizeigarage bestand bis 2020.
Ein detaillierter Auszug aus dem Grabungsbericht kann hier heruntergeladen werden.
Im Auftrag der Stadt Gammertingen verfassen Joachim Jehn und ich bis Ende 2023 eine neue interdsiziplinäre Stadtgeschichte Gammertingens. Grundlage sind die umfassenden neuen Erkenntisse aus der Auswertung der Schlossplatzgrabung von 2012/13, ergänzt durch umfangreiche neue Archivstudien. Ergänzt wird die Arbeit durch neue Illustrationen von Roland Gäfgen, Renningen, sowie in geringerem Umfang auch durch neue bauhistorische Untersuchungen durch Tilmann Marstaller, Rottenburg. Hierzu liegen inzwischen zwei wichtige Ergebnisse vor: Die Baudaten zu den Gebäuden Hohenzollernstraße 14 und 16 (1665 bzw. 1492) setzen Marker für die stadttopografische Entwicklung rund um den spätmittelalterlichen Marktplatz - und machen neuerliche Sichtungen der korrespondierenden Schriftüberlieferung erforderlich.
Die wissenschaftliche Auswertung der Schlossplatzgrabung, die ursprünglich in den Forschungen und Berichte zur Archäologie in Baden-Württemberg erscheinen sollte, ist dort inzwischen abgelehnt worden, weil anscheinend nicht mit dem Reihenprofil kompatibel. Ich erachte dies als höchst bedauerlich, weil hier erstmals eine archäologische Untersuchung vorgelegt wurde, die von der Planung bis zur Publikation den Grundzügen der von mir entwickelten historischen Archäologiekonzeption folgt. Sie zeigt exemplarisch, welche Informationsdichte unter entsprechenden Voraussetzungen aus einer gewöhnlichen, kleineren Stadtkerngrabung zu extrahieren ist. Bis ein alternativer Publikationsort gefunden ist, biete ich an, die Arbeit Interessenten auf Anfrage zur privaten Nutzung zur Verfügung zu stellen.
Nachdem 2016 im Zusammenhang mit der Kirchenrenovierung erstmals baubegleitende Untersuchungen an der Nehrener Veitskirche erfolgt waren, konnten im März/April 2018 auch baubegleitende Untersuchungen auf dem westlichen Kirchenvorplatz durchgeführt werden. Diese erfolgten im Auftrag der Gemeinde Nehren, welche Eigentümerin des zur Hauchlinger Straße gelegenen westlichen Kirchvorplatzes ist. Die Befunde auf der überschaubar großen Untersuchungsfläche erwiesen sich als für die Nehrener/Hauchlinger Kirchen- und Siedlungsgeschichte in besonderem Maße relevant. Hauptbefund ist eine sanft zur Straße abfallende sorgfältig gepflasterte Fläche, auf der sich ein ca. 1 m breiter Fußweg abgrenzen lässt, welcher die gepflasterte Fläche zugleich entwässerte. Der Fußweg scheint auf das seit der Kirchenerweiterung von 1587 am heutigen Ort befindliche Hauptportal der Kirche zu zielen. Interessanterweise biegt der Weg am westlichen Ende des Kirchvorplatzes nach Süden ab. Er lässt sich von daher wohl auch als materielle Manifestation der Einpfarrung Nehrens nach Hauchlingen begreifen sowie als Zeichen dafür, dass das wesentlich bevölkerungsstärkere Nehren im vereinigten Ort auch auf der geistlichen Ebene die Ausrichtung vorgab.
Das Pflaster ist durch Reste einer darüberliegenden Brandschuttschicht in zweifacher Weise datierbar. Die Flachziegel, gebrannten Lehm, Holzkohle, Geschirr-, Ofen- und Sonderkeramik führende Schicht verweist wohl auf eine Ablagerung im 18. Jahrhundert, gleichwohl gehört das Gros der Funde in die 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts, also in die Zeit der Kircherweiterung. Vermutlich lässt sich dieser Befund durch die erneute Ausplanierung von Sediment erklären, das bei der Kirchenerweiterung von 1587 in den Boden gelangte.
Fast noch spannender als die Umstände der Pflastererrichtung sind jedoch diejenigen seiner Aufgabe wohl im 18. Jahrhundert. Sie erfolgte unmittelbar nach dem Brand eines in Fachwerkbauweise errichteten Nachbargebäudes. Nach dem Ausschlussverfahren - die älteren Nachbargebäude bestehen entweder noch oder bestanden nachweislich weiter (das 1700 erbaute Nehrener Schulhaus) - ist der Brand auf dem heute der Gemeinde gehörenden Flurstück 4/1 selbst zu verorten. Dort bestand bis in die 1960er ein wohl ins 18. Jahrhundert zurückgehender Streckhof, der sich auf den heutigen Kirchzugang bezieht und wohl wie dieser ein Zeugnis der Neuordnung nach dem Brand war. Für den im 18. Jahrhundert abgegangenen Hof kommt letztlich vor allem ein Standort infrage: südwestlich der alten Schule im Bereich der Kurve, welche die Hauchlinger Straße heute um den "Kirchhügel" nimmt. Trifft diese Annahme, so müsste man bis ins 18. Jahrhundert noch gänzlich unterschiedliche Siedlungs-, vor allem aber Verkehrsverhältnisse rund um die Hauchlinger/Nehrener Kirche annehmen. Bis zu dieser Zeit wäre die in Verlängerung der Nehrener Hauptstraße verlaufende heutige Hauchlinger Straße gerade aus über das "Alte Gässle" Richtung Dußlingen/Tübingen verlaufen. Sie hätte im Bereich der heutigen Kurve ein wesentlich höheres Niveau und wäre vom frühneuzeitlichen gepflasterten Kirchvorplatz ohne Treppe erreichbar gewesen. Die Hauchlinger Häusergruppe "im Bund" wäre von dieser Hauptstraße nur mit einem sehr abschüssigen Pfad, vielleicht auch einer Treppe verbunden gewesen - eine Verbindung, die für landwirtschaftliche Gespanne möglicherweise nicht oder nicht dauerhaft befahrbar war. Tatsächlich datiert das älteste Haus am nach Nordnordost führenden unteren Ast der Hauchlinger Straße erst auf 1734 - für Hauchlinger Verhältnisse ein junges Datum.
Es spricht einiges dafür, dass das heutige Nehrener Hauptstraßensystem nur auf das 18. Jahrhundert zurückgeht - und dass sich der alte Kirchweiler Hauchlingen siedlungsgenetisch auf die Kirche und die Häusergruppe "Im Bund" reduzieren lässt. Die anderen Häusergruppen an der Hauchlinger Straße wie etwa "in der Pfann" sind letztlich als Hofgründungen an der durch Nehren führenden Straße zu sehen, die wohl bis zum Ausbau der Schweizer Straße (B 27) als Chausee in den 1750ern noch als Durchgangsstraße zu den Albaufstiegen bei Gönningen und Talheim zu werten ist, und gehören siedlungsgenetisch bereits zum seit 1504 kirchlich und 1543 weltlich vereinigten Dorf.
Initiiert von den Journalisten Wolfgang Bauer (Die ZEIT) und Dr. Ulrich Stolte (Stuttgarter Zeitung) ist ein Projekt zur Erforschung, Vermittlung und denkmalgerechten Konservierung der Ruine Hohengekingen auf Markung Sonnenbühl-Undingen gestartet worden, das ich wissenschaftlich begleite. Es sind Kooperationen mit dem Landesamt für Denkmalpflege, der Universität Tübingen und der Gemeinde Sonnenbühl vereinbart worden, ein Förderverein ist in Gründung. Im November/Dezember 2021 fanden auf der Burg erste Vermessungsarbeiten (Prof. Quasnitza, FH Biberach) statt, die vom Landesamt für Denkmalpflege vermittelt und finanziert wurden. Inzwischen sind wir mit einer vorläufigen Homepage online, im Dezember 2022 erfolgte die Gründung des Fördervereins "Die Burg e. V." in Willmandingen. Eine archäologische Bestandsaufnahme der obertägig erkennbaren (Bau-)Befunde soll im März 2023 in Zusammenarbeit mit der Abteilung Archäologie des Mittelalters am Institut für Ur- und Frühgeschichte und Archäologie des Mittelalters an der Universität Tübingen stattfinden.
www.historische-archaeologie.de wurde zuletzt aktualisiert am 25.01.2023