Kurzzusammenfassung der Untersuchungen (Stand 2020), ehemals auf "Aktuelles"-Seite hinterlegt
Die drei benachbarten Grundstücke in der südöstlichen Reutlinger Altstadt sollen mit einem Mehrfamilienhaus neu bebaut werden. Die GWG Reutlingen als Bauherr hat im Vorfeld archäologische Untersuchungen des Areals in Auftrag gegeben, die in Zusammenarbeit mit Tilmann Marstaller von meinem Büro durchgeführt wurden. Auf eine eintägige baubegleitende Maßnahme im Bereich der alten Durchfahrt zwischen den Gebäuden Nr. 24 und 26 im April folgte eine vierwöchige Grabungskampagne, die am 25.6. abgeschlossen werden konnte. Inzwischen ist die Dokumentation abgegeben, die (weiterhin: vorläufigen) Ergebnisse der archäologischen Untersuchung liegen vor. Wegen der komplexen Stratigrafie und der "Mehrstöckigkeit" der Grabung fallen diese nun deutlich anders aus als die grabungszeitlichen Einschätzungen - ein normaler Vorgang in der stratigrafischen Archäologie, der gleichwohl zur generellen Vorsicht gegenüber Darlegungen in Vorberichten gemahnt.
Die Grabung Weingärtnerstraße 22-26, peripher in der Südecke der Stadt gelegen, erlaubt über die Baugeschichte auf den einschlägigen Parzellen hinaus relevante Einblicke in die Entwicklung des Reutlinger Hauptstraßensystems. Trotz zweier Brandkatastrophen mit anschließenden Revisionen der Parzellierung (frühes 16. Jh. und großer Reutlinger Stadtbrand 1726) haben sich stadtgründungszeitliche Strukturen des 13. Jahrhunderts bis zuletzt erhalten: Die SSW-NNO verlaufenden parallelen Straßenzüge Weingärtnerstraße, Lindenstraße und wohl auch Nürtingerstraße sind vom Prinzip her zur gründungzeitlichen Planstadt zu rechnen. Erst in das spätere 16. Jahrhundert (wohl zwischen 1570 und 1590 d) datiert die Anlage des West-Ost verlaufenden südlichen Abschnitts der Weingärtnerstraße, welcher funktional die ursprünglich wohl durch das Areal des Oberen Bollwerks laufende Kanzleistraße als Hauptstraße durch den Südwestteil der Stadt ersetzte. Es ist eine spannende Frage, ob diese Neuordnung, welche mit einiger Wahrscheinlichkeit auf den Bau des Oberen Bollwerks reagiert, auch mit dem Brand im frühen 16. Jahrhundert zu tun haben könnte. Fassen wir hier ggf. Spuren des württembergischen Angriffs auf Reutlingen 1519, welcher die besondere Verletztlichkeit der Stadtbefestigung im Süden offenbarte, auf die man mit dem Bau des Oberen Bollwerks dann direkt reagierte?
Die zuletzt etwas heruntergekommene Erscheinung des Areals kann nicht in gleicher Weise in die frühe Neuzeit und in das Mittelalter zurückgeschrieben werden. Noch der Neubau Weingärtnerstraße 24 des späten 16. Jahrhunderts ist beachtlich, noch mehr gilt das für den Gründungsbau des 13. Jahrhunderts mit seinem licht über 2,30 m, vermutlich etwa 2,50 m hohen flachgedeckten Keller. Interessant ist auch das wenige, was über die Vorgängerbesiedlung des 12./13. Jahrhunderts zu erfahren ist. Große Pfostengruben sowie Becherkacheln spiegeln eine sozial auffällige Bevölkerung; Materialentnahmegruben, ein Ofen sowie (verlagert) etwas Verhüttungsschlacke hingegen einen wirtschaftlich-technischen Hintergrund. Im Plan der Stadtgründungzeit, zu dem die Weingärtnerstraße ja nicht in ihrer heutigen irregulären Form gehörte, wurden die Binnenstrukturen dieser Vorgängersiedlung überformt. Die Anlage der "Urkanzleistraße", die auf einen alten Echazübergang im Bereich des Oberen Mühltors gezielt haben dürfte und mit ihrer NNW-SSO-Ausrichtung ein Solitär in der (südwestlichen) Altstadt darstellt, wird man jedoch mit der hier befindlichen vorstädtischen Siedlung in Verbindung bringen. Nach den Belegen am Oberen Bollwerk stellen die Befunde der Weingärtnerstraße nun den zweiten Beleg dieser Siedlung dar, die für die Gründungskonzeption der Stadt Reutlingen eine nicht unwesentliche Rolle spielt.