Archiv: Nehren, Neue Beobachtungen zur Siedlungsgeschichte
Kurze Zusammenfassung des Forschungsstands 2022, ehemals auf "Aktuelles"-Seite hinterlegt
Nehren, Neue Beobachtungen zur Siedlungsgeschichte
Abzweig Hauchlinger Straße/Altes Gässle/Kirchvorplatz
Nachdem 2016 im Zusammenhang mit der Kirchenrenovierung erstmals baubegleitende Untersuchungen an der Nehrener Veitskirche erfolgt waren, konnten im März/April 2018 auch baubegleitende Untersuchungen auf dem westlichen Kirchenvorplatz durchgeführt werden. Diese erfolgten im Auftrag der Gemeinde Nehren, welche Eigentümerin des zur Hauchlinger Straße gelegenen westlichen Kirchvorplatzes ist. Die Befunde auf der überschaubar großen Untersuchungsfläche erwiesen sich als für die Nehrener/Hauchlinger Kirchen- und Siedlungsgeschichte in besonderem Maße relevant. Hauptbefund ist eine sanft zur Straße abfallende sorgfältig gepflasterte Fläche, auf der sich ein ca. 1 m breiter Fußweg abgrenzen lässt, welcher die gepflasterte Fläche zugleich entwässerte. Der Fußweg scheint auf das seit der Kirchenerweiterung von 1587 am heutigen Ort befindliche Hauptportal der Kirche zu zielen. Interessanterweise biegt der Weg am westlichen Ende des Kirchvorplatzes nach Süden ab. Er lässt sich von daher wohl auch als materielle Manifestation der Einpfarrung Nehrens nach Hauchlingen begreifen sowie als Zeichen dafür, dass das wesentlich bevölkerungsstärkere Nehren im vereinigten Ort auch auf der geistlichen Ebene die Ausrichtung vorgab.
Das Pflaster ist durch Reste einer darüberliegenden Brandschuttschicht in zweifacher Weise datierbar. Die Flachziegel, gebrannten Lehm, Holzkohle, Geschirr-, Ofen- und Sonderkeramik führende Schicht verweist wohl auf eine Ablagerung im 18. Jahrhundert, gleichwohl gehört das Gros der Funde in die 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts, also in die Zeit der Kircherweiterung. Vermutlich lässt sich dieser Befund durch die erneute Ausplanierung von Sediment erklären, das bei der Kirchenerweiterung von 1587 in den Boden gelangte.
Fast noch spannender als die Umstände der Pflastererrichtung sind jedoch diejenigen seiner Aufgabe wohl im 18. Jahrhundert. Sie erfolgte unmittelbar nach dem Brand eines in Fachwerkbauweise errichteten Nachbargebäudes. Nach dem Ausschlussverfahren - die älteren Nachbargebäude bestehen entweder noch oder bestanden nachweislich weiter (das 1700 erbaute Nehrener Schulhaus) - ist der Brand auf dem heute der Gemeinde gehörenden Flurstück 4/1 selbst zu verorten. Dort bestand bis in die 1960er ein wohl ins 18. Jahrhundert zurückgehender Streckhof, der sich auf den heutigen Kirchzugang bezieht und wohl wie dieser ein Zeugnis der Neuordnung nach dem Brand war. Für den im 18. Jahrhundert abgegangenen Hof kommt letztlich vor allem ein Standort infrage: südwestlich der alten Schule im Bereich der Kurve, welche die Hauchlinger Straße heute um den "Kirchhügel" nimmt. Trifft diese Annahme, so müsste man bis ins 18. Jahrhundert noch gänzlich unterschiedliche Siedlungs-, vor allem aber Verkehrsverhältnisse rund um die Hauchlinger/Nehrener Kirche annehmen. Bis zu dieser Zeit wäre die in Verlängerung der Nehrener Hauptstraße verlaufende heutige Hauchlinger Straße gerade aus über das "Alte Gässle" Richtung Dußlingen/Tübingen verlaufen. Sie hätte im Bereich der heutigen Kurve ein wesentlich höheres Niveau und wäre vom frühneuzeitlichen gepflasterten Kirchvorplatz ohne Treppe erreichbar gewesen. Die Hauchlinger Häusergruppe "im Bund" wäre von dieser Hauptstraße nur mit einem sehr abschüssigen Pfad, vielleicht auch einer Treppe verbunden gewesen - eine Verbindung, die für landwirtschaftliche Gespanne möglicherweise nicht oder nicht dauerhaft befahrbar war. Tatsächlich datiert das älteste Haus am nach Nordnordost führenden unteren Ast der Hauchlinger Straße erst auf 1734 - für Hauchlinger Verhältnisse ein junges Datum.
Es spricht einiges dafür, dass das heutige Nehrener Hauptstraßensystem nur auf das 18. Jahrhundert zurückgeht - und dass sich der alte Kirchweiler Hauchlingen siedlungsgenetisch auf die Kirche und die Häusergruppe "Im Bund" reduzieren lässt. Die anderen Häusergruppen an der Hauchlinger Straße wie etwa "in der Pfann" sind letztlich als Hofgründungen an der durch Nehren führenden Straße zu sehen, die wohl bis zum Ausbau der Schweizer Straße (B 27) als Chausee in den 1750ern noch als Durchgangsstraße zu den Albaufstiegen bei Gönningen und Talheim zu werten ist, und gehören siedlungsgenetisch bereits zum seit 1504 kirchlich und 1543 weltlich vereinigten Dorf.
Ursprüngliche Lage Hauchlingens am Obwiesbach
Die auf Lesefunde gestützte Vermutung, dass das alte Hauchlingen ursprünglich wohl dem
Wiesbachübergang bei der Musikantenscheuer zugeordnet war, konnte im Zuge einer ebenfalls durch die Gemeinde beauftragten baubegleitenden Untersuchung am Regenüberlaufbecken in der Talstraße im April 2019 erhärtet werden. In hoher Befunddichte traten hier früh- und hochmittelalterliche Siedlungsbefunde zu Tage: Pfostengruben, Gruben, Grubenhäuser, öfen und eine Schmiedeesse.
Eine einzige rechteckige Grube mit ca. 165 x 85 cm Ausdehnung enthielt vorgeschichtliche Keramik, die nur unscharf zwischen Spätneolithikum und Hallstattzeit eingeordnet werden kann. Ein sehr spannendes Ergebnis, weil damit möglicherweise ein erster Hinweis auf Siedlungstätigkeit vorliegt, die zeitlich mit dem bekannten
bronze- und eisenzeitlichen Gräberfeld Heunisch/Lochert/Neuwiese in Verbindung gebracht werden kann.
Die älteste mittelalterliche Keramik stellt die rauwandige Drehscheibenware des 6.-8. Jahrhunderts dar sowie, damit vergesellschaftet, handgemachte rauwandige Waren; der Platz war spätestens in der jüngeren Merowingerzeit besiedelt. Im zum Bach hin gelegenen nördlichen Untersuchungsteil enden die Befunde im Hochmittelalter, wohl noch im 11. Jahrhundert, im südlichen Teil finden sich auch spätere Befunde, die vereinzelt bis ins 13./14. Jahrhundert reichen. Die Siedlungsphasen weisen offenbar unterschiedliche Ausrichtungen auf. Die jüngere Siedlungsphase ist auf die Verbindung nach Nehren ausgerichtet (Talstraße - untere Hauchlinger Straße), die ältere West-Ost mit Tendenz WSW-ONO. Diese Ausrichtung wird man mit der noch im 19. Jahrhundert genutzten alten Straße Hauchlingen-Gomaringen in Verbindung bringen können, welche nach dem übertritt über den Wiesbach zur damaligen Zeit vermutlich am Südosthang des Steinlachtals Richtung Ofterdingen weiterlief. Mit einiger Wahrscheinlichkeit fassen wir hier eine ursprüngliche Funktion Hauchlingens im Fernverkehr, die mit der Gründung der Konkurrenzsiedlung Nehren als Ofterdinger Ausbausiedlung wohl noch im Frühmittelalter wieder obsolet geworden war.
In Verbindung mit den bekannten Lesefunden wird man das endgültige Wüstfallen der Siedlung am Wiesbach ins 12.-14. Jahrhundert datieren, das zum Weiler schrumpfende Hauchlingen hatte sich zu dieser Zeit bereits auf den Weg Richtung Nehrener Hauptstraße gemacht.
Kirche, Oper und Hauchlinger Straße
Für die Siedlungsgeschichte von Nehren/Hauchlingen rückt damit die Frage nach dem Ursprung der dort gelegenen, erstmals 1275 erwähnten Kirche ins Zentrum: Fassen wir mit der Veitskirche, die in diesem Fall eine beachtliche Ausdehnung des frühmittelalterlichen Hauchlingens belegen würde, den frühmittelalterlichen Ursprung der Pfarrei Hauchlingen? Oder fassen wir eine erst spät gegründete Wallfahrtskirche, die die Pfarrrechte sekundär an sich zog und sich selbst bereits an den durch die bedeutender gewordene Nachbarsiedlung Nehren vorgegebenen Siedlungsstrukturen orientiert? Die
2020 durchgeführten Untersuchungen in der Kirche scheinen diese Frage beantworten zu können (Ein detaillierter
Auszug aus dem Grabungsbericht kann hier heruntergeladen werden.): Die Bebauung an Ort und Stelle scheint nach neuen C14-Daten aus einem Holzkohle-führenden Arbeitshorizont, der zu Beginn der Arbeiten am ersten steinernen Kirchenbau abgelagert wurde, im 10./11. Jahrhundert zu beginnen. Zum vermutlich zugehörigen Holzgerüstbau liegen keine Baubefunde vor, auch scheint der Fundanfall eher erst "um 1100" einzusetzen. Als Bauherr der ersten Steinkirche kommt am ehesten das 1095 gegründete Kloster Alpirsbach in Betracht, das im 13. Jahrhundert die Hauchlinger Ortsherrschaft innehatte. Spätestens im mittleren 13. Jahrhundert existierte ein Friedhof um die Kirche, auch hiervon liegt inzwischen ein C14-Datum vor. Zu diesem Zeitpunkt kann die Hauchlinger Kirche als Pfarrkirche gelten, als die sie 1275 ja auch belegt ist. Es lässt sich jedoch ausschließen, dass die Hauchlinger Pfarrei ins Frühmittelalter zurückgeht: Hauchlingen muss daher zunächst anderweitig eingepfarrt sein, wobei Flurnamen und Markungsrekonstruktion eine ursprüngliche Zugehörigkeit zu St. Peter und Paul in Dußlingen wahrscheinlich machen. Es ist trotz des "frühen" Ortsnamens darüber hinaus denkbar, dass Hauchlingen von Dußlingen aus gegründet wurde und als dessen Ausbausiedlung zu begreifen ist.
Nach einem Brand wohl im frühen 14. Jahrhundert wurde die Kirche notdürftig wieder aufgebaut. Erst nach Übergang an das Kloster Stein am Rhein erfolgte 1430 erneut ein anspruchsvoller Neubau. Westempore, ein möglicher Lettner im zentralen Schiff sowie eine erhöhte, evtl. abgeschrankte Fläche vor der nordöstlichen Fensternische des Langhauses, Dimensionen und Bauqualität lassen sich als Argumente dafür werten, dass die Kirche inzwischen nicht mehr nur Pfarrfunktion für wenige Hauchlinger Höfe hatte: Mit einiger Wahrscheinlichkeit lassen sich Veitspatrozinium und -wallfahrt diesem Kirchenbau zuordnen.
Durch eine naturwissenschaftliche Untersuchung gibt es neue Ergebnisse zum Alter der Nehren-Hauchlinger Hauptstraße. Ein während der Kirchengrabung 2020 geborgener Tierknochen an der Unterkante der ältesten Straßenbefestigung auf Höhe Hauchlinger Straße 22 datiert in die 2. Hälfte 12. bzw. das 1. Viertel des 13. Jahrhunderts. Mit einiger Wahrscheinlichkeit fassen wir damit das Errichtungsdatum der gerade verlaufenden NW-SO-Achse in der heute bekannten Form. Sie ist damit jünger als die Hauchlinger Kirche, die an einem weniger gerade verlaufenden Vorgänger der Straße errichtet worden war. Von besonderem Interesse ist ein Befund, der dem ersten Straßenschotter vorausgeht: Ein großer, homogen mit Lehm verfüllter Graben in den Dimensionen eines Stadt- oder Burggrabens, dessen Ausrichtung und Fortsetzung wegen der Störungen in der Straßenmitte nicht zu beschreiben ist. Wegen des sehr geradwandigen Einfallens der Grabenränder liegt die Deutung als anthropogen angelegt m. E. näher als eine natürliche Erklärung. Möglicherweise fassen wir hier den Graben um eine im 12./13. Jahrhundert aufgegebene Niederungsburg, deren Haupthaus an der Stelle des herrschaftlichen Gebäudes Oper 1 zu lokalisieren wäre. Gelegen am Rand einer durch eine geologische Verwerfung bedingten feuchten Senke, die vom ursprünglichen Straßenverlauf südwestlich umgangen worden sein dürfte, könnte der Graben ohne Weiteres wasserführend gewesen sein. Eine Reihe von historischen Fragen und Entwicklungsmodellen schließen an diesen spannenden Befund an - es steht zu hoffen, dass mittelfristig neue Untersuchungen zu Alter und Entwicklung der heute noch herausstechenden Hofgruppe folgen können.
Altweg bei der Hofstatt
Ergebnisse zur frühen Nehrener Siedlungs- und Verkehrsgeschichte erbrachte eine durch das Landesamt für Denkmalpflege beauftragte baubegleitende Untersuchung mehrerer Hausanschlüsse in der unteren Luppachstraße 2019. Während die Aufschlüsse im Bereich der heutigen Post vor allem Informationen zur neuzeitlichen Geschichte des Luppachs erbrachten, lässt sich in zwei Profilen in der Auffahrt zur "Hofstatt" (zwischen Luppachstr. 14 und 20) wohl der ältere Verlauf der Luppachstraße nachweisen. Diese verlief oberhalb der feuchten Senke und lässt sich bei genauem Hinsehen noch im heutigen Ortsbild verfolgen: entlang dem zurückgesetzten traufständigen Wohnhaus Luppachstr. 6 (und diesem auf Kosten der Sparkasse abgebrochenen Nachbargebäude zur Wette hin) über die Einfahrt zur Hofstatt bis in die noch als solche erhaltene Straße "im Stiegel". Anders als die heute Richtung Mössingen abbiegende Luppachstraße wird man die "Urluppachstraße" noch als Ortsverbindung nach Ofterdingen begreifen können, von wo aus Nehren im Frühmittelalter gegründet worden sein dürfte.