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Archiv: Tübingen, Archäologischer Stadtkataster

Kurzes Fazit zur Siedlungs- und frühen Stadtgeschichte, ehemals auf "Aktuelles"-Seite hinterlegt

Tübingen, Archäologischer Stadtkataster

Das Gebiet der frühmittelalterlichen Siedlung Tübingen ist inzwischen mit guten Gründen im Areal der späteren Unterstadt zu verorten - eingegrenzt in etwa von nördlicher Stadtmauer, Salzstadelgasse, Langer Gasse und dem Beginn des steileren Anstiegs zum Schlossberg. Die im 6. Jh. gegründete Siedlung, die vermutlich nicht allein landwirtschaftlichen Hintergrund besaß, lag zu beiden Seiten der Ammer, die damals etwa auf der Linie Madergasse - Johanneskirche geflossen sein dürfte, mindestens 4,5 Meter unter dem heutigen Niveau. Die Siedlung, zu der inzwischen ein zweites Gräberfeld bekannt ist (eine "Hofgrablege" des 8. Jh. im Bereich Hirschgasse/Collgiumsgasse), könnte von Beginn an auch auf einen Neckarübergang ausgerichtet gewesen sein.
In der Zeit um die Jahrtausendwende ist am Schmiedtor eine etwa 30 Meter durchmessende Wall-Graben-Befestigung auf der Linie der späteren Stadtmauer zu fassen. Vermutlich ist diese weniger als Adelssitz denn als Zeichen für den Beginn einer frühstädtischen Befestigung des alten "dörftlichen" Siedlungsareals zu werten. Tatsächlich wird im 11. Jh. eine diese "Frühstadt" umfassende Wall-Graben-Anlage errichtet - möglicherweise im zeitlichen Kontext mit der Errichtung der Burg Hohentübingen (vor 1078). Noch im 11. Jh. beginnt die flächige städtische Aufsiedlung der Tübinger Altstadt in ihren heutigen Ausmaßen. Dabei scheint es so, als ob die neu erschlossene Siedlungsfläche (also insbesondere die Oberstadt und die östliche Altstadt) planmäßig angelegt wurde - durch möglichst gerade auf einen zentralen Platz (den heutigen Holzmarkt mit der wohl damals errichteten Stadtkirche St. Georg) zuführende Erschließungsachsen, von denen die Lange Gasse, die Neckargasse und die Achse Neckarhalde-Kronenstraße heute noch in ähnlicher Form Bestand haben.
Im 12. Jh. nimmt die Aufsiedlung enorm an Fahrt auf. Vor allem ist jedoch auf die mit Abstand wichtigste Infrastrukturmaßnahme hinzuweisen: Der Bau der Stadtmauer, verbunden mit erheblichen Eingriffen in das Ammersystem. Der Fluss wurde an den Schnarrenberg-Hang nördlich der Stadtmauer verlegt (floss evtl. ursprünglich durch den neu angelegten Stadtgraben), während die Stadt durch den 1149 errichteten, am Hang des Schlossbergs entlangführenden Ammerkanal mit Brauchwasser versorgt wurde. Das Großprojekt dürfte in den 1140ern begonnen worden sein und sicherlich erst in der 2. H. des 12. Jh. abgeschlossen. Verheerende Auswirkungen zeitigten die Eingriffe in der zentralen Unterstadt: Bis etwa 1250 mussten im Bereich der ehemaligen Ammer mindestens 4,5 Meter Sediment aufgeschüttet werden, um dem stetigen Anstieg des Grundwasserpegels zu begegenen! Noch heute zeugt die romanische Jakobuskirche (vermutlich die alte Dorfkirche!), deren Niveau etwa 2 m tiefer liegt als das der spätgotischen Umbauphase um 1500, von diesen Vorgängen.
Es ist bezeichnend für die wirtschaftliche Potenz der pfalzgräflichen Stadtherren, dass diese drei Generationen währende Katastrophe bewöltigt werden konnte, ohne dass sich etwas am Tübinger Wohlstadt änderte: Das Fundmaterial des 12./13. Jh. bezeugt vor allem durch den flächig vorhandenen Becherkachelhorizont einen außergewöhlichen Lebensstandard in dieser Zeit. Auch der Stadtbrand von 1280, der große Teile der Unterstadt sowie die östliche Altstadt verwüstete, konnte durch die Stadtherrschaft noch produktiv genutzt werden: Allenthalben sind neue Parzellierungen und sogar Neuanlagen von Durchgangsstraßen (Pfleghofstraße) zu beobachten, in der Schmiedtorstraße entstehen das Spital und ein öffentlicher Großbau unter dem späteren Fruchtkasten. Das nachstadtbrandzeitliche Fundmaterial jedoch zeugt von sich allmählich normalisierenden Verhältnissen: Das Tübingen des 14. Jh. präsentiert sich eher unauffällig, die städtische Entwicklung verlangsamt sich. Erst im Zuge der neuen Bedeutung, die Tübingen in der 2. Hälfte des 15. Jhs. gewinnt (Universitätsgründung 1477) lässt sich ein neuerlicher Schub verzeichnen.

Unter dem Titel "Alte Quellen neu gefasst - Die Entstehung der Stadt Tübingen aus archäologischer Perspektive" ist die historische Quintessenz (bis zum Stadtbrand 1280) der Arbeiten am Fundstellenkatalog im vierten Band der Reihe "Landeskundig" erschienen. Im August 2018 folgte der Archäologische Stadtkataster selbst, der am 19. September im Tübinger Rathaus übergeben wurde.